„Failed State“ – diese Bezeichnung aus der Politikwissenschaft ist die Definition für einen Staat der die grundlegendsten Funktionen nicht mehr erfüllen kann. In einem „gescheiterten Staat“ funktionieren weder die rechtsschaffenden Organe, noch die staatliche Sicherheit, Versorgung der Bevölkerung oder die politische Organisation der Herrschaft. Mehr als ein Dutzend solcher Länder existieren laut dem „Failed State Index“ des US-Magazins Foreign Policy aus dem Jahre 2005. Neben dem kriegszerrütteten und militärisch besetzen Irak und Afghanistan findet sich auf dieser Liste an vorderster Stelle Somalia. Bürgerkrieg, Terror, Piraterie, Spielball der Nachbarmächte, Spielplatz für Terroristen und Kriminelle, wie sieht Somalia Anfang 2009 aus? Eine Bestandsaufnahme.
Seit fast zwei Jahrzehnten tobt am Horn von Afrika ein blutiger Bürgerkrieg der Somalia als funktionierenden Staat komplett zerstörte, eine Gesellschaft traumatisierte und eine chaotische Situation der Stammesherrschaft und Clanfeden gepaart mit extrem hoher Kriminalität und islamistischem Terrorismus schuf.
Mehrere Bemühungen der Internationalen Gemeinschaft und der Afrikanischen Union (AU) das Land zu stabilisieren oder wenigstens die Gewalt temporär einzudämmen scheiterten kläglich. Zuletzt versuchten äthiopische Truppen 2006 mit einer Invasion und Besatzung Somalia zu beruhigen und mit Hilfe einer im Exil geformten Marionetten-Regierung eine halbwegs stabile Form der Herrschaft zu etablieren. Unter diesem Vorwand jedenfalls stürzte die Armee Addis Abebas das islamische Regime der Islamic Courts Union, das seit Mitte 2006 in Somalia herrschte, das Gesetz der Sharia eingeführt und ein „Islamisches Emirat Somalia“ ausgerufen hatte, nachdem die lokalen Stammesfürsten und Warlords von ihnen besiegt und unterworfen worden waren.
Anfang diesen Jahres nun zog sich das äthiopische Militär komplett aus Somalia zurück, räumte Stützpunkte und Basen die in den vergangenen Jahren immer wieder Ziel der islamistischen Milizen wurden die versuchten die Kontrolle über Somalia wieder zu erlangen. Im Voraus hatte man eine neue somalische Regierung ins Amt gehoben, an deren Spitze der Vorsitzende der „Allianz zur Wiederbefreiung Somalias“ Sharif Sheikh Ahmed, ehemaliges Regierungsmitglied während der Zeit der kurzen islamischen Herrschaft 2006. Im Gegensatz zu den Besatzern aus dem christlichen Reich Äthiopien und der mehr oder weniger installierten Exil-Regierung die von Djibouti aus versuchte das Bürgerkriegsland zu kontrollieren scheint die jetzige Regierung der Allianz unter Sheikh Ahmed großen Rückhalt in der kriegsgeplagten Bevölkerung zu haben. Sehr viel, wahrscheinlich zu viel erhoffen sich die Somalis von ihrem neuen Präsidenten, der bereits ankündigte man weder keine Bürgerkriegsparteien mehr dulden und Recht und Ordnung würden in Form der islamischen Rechtssprechung nach Somalia zurückkehren.
Von der UN wird Sharif Sheikh Ahmed, früher Mitglied der fundamentalistischen Islamic Courts, und seine Übergangsregierung unterstützt. Alle Seiten, sowohl die Vereinten Nationen, als auch die Afrikanische Union und besonders die Äthiopier scheinen genug davon zu haben entscheiden zu müssen was mit Somalia in Zukunft passiert. Wie viele Soldaten und wie viel Material die äthiopischen Truppen seit ihrem Einmarsch vor zweieinhalb Jahren verloren haben ist wohl kaum zu ermitteln, jedenfalls sahen sie sich seit Beginn der US-gestützten Besatzung einer Widerstandsbewegung von Seiten der vertriebenen Islamisten rund um die Al-Shabaab Bewegung, dem militärischen Arm der Islamic Courts, gegenüber die ihnen beinahe täglich durch Anschläge und Überfälle Verluste zufügte. Aus dieser zermürbenden Situation konnten die Äthiopier nur durch einen Abzug entkommen. Dieser jedoch bedeutet nichts anderes als eine Übernahme der Macht durch die wiedererstarkten islamistischen Kräfte. Von Seiten der AU und letztendlich auch aus Sicht der UN war dies aber wohl zu verschmerzen, denn sie billigten den Rückzug der äthiopischen Besatzer und setzen alles auf die neue Regierung unter dem als gemäßigt (falls man dies von Islamisten tatsächlich behaupten kann) geltenden Sharif Sheikh Ahmed. Das Problem der Aufständigen allerdings ist alles andere als gelöst. So sehr man von Seiten der „Allianz für die Wiederbefreiung Somalias“ auch beteuert eine Gemeinschaftsregierung bilden zuwollen, stoßen diese Appelle bei des Hardliner der Al Shabaab auf Ablehnung. Die „somalischen Taliban“, wie diese radikalislamische Jugendbewegung genannt wird, weigern sich einen Deal mit der AU und der neuen Übergangsregierung einzugehen.Sie wollen kämpfen bis die Sharia wieder Somalia
beherrscht und jeglicher Einfluss auf dasLand von außen gestoppt ist. In den Augen der USA und vieler westlicher Staaten repräsentieren die Al Shabaab Kämpfer nichts anderes als Al Qaidas Speerspitze in Afrika.
Ideologisch lässt sich die somalische Gruppierung tatsächlich kaum von Bin Ladens Netzwerk trennen, es gibt sogar einige Verlinkungen die über Ländergrenzen hinaus reichen. Anführer der Al Shabaab wurden in afghanisch-pakistanischen Ausbildungslagern trainiert, manche sind sogar Veteranen des Afghanistankrieges gegen die Sowjetunion, einige bekämpften unter Al Qaidas Flagge im Irak die US-Truppen und pflegen Kontakte in diverse arabische Staaten.
Finanziell besteht eindeutig eine Verbindung zwischen den Islamisten im Nahen Osten, dem fernen Afghanistan und dem Horn von Afrika. Spenden aus den Golfstaaten und Südostasien fließen seit Gründung der islamistischen Miliz nach Somalia und finanzieren deren Kampf für die Errichtung eines islamischen Gottesstaates in Ostafrika.
Während der kurzen Herrschaft der Islamic Courts im Jahr 2006 fungierten die Al Shabaab („die Jugend“) als ausführende Staatsgewalt, regierungseigene Miliz, Armee und Polizei. In Trainingscamps rund um Mogadischu und nördlich der Hauptstadt bildeten die Islamisten junge Somalis zu Kämpfer für den Heiligen Krieg aus, lehrten Bombenbau und Guerilla-Taktik. Damals fanden sich in den Reihen dieser Somalis auch ausländische Kämpfer aus arabischen und anderen afrikanischen Staaten. Sogar Europäer und Amerikaner sollen unter der Al Shabaab Herrschaft in Somalia Zuflucht gefunden haben. Diese Tatsache war für die Bush Administration Grund genug militärisch aktiv zu werden und AC-130 Kampfflugzeuge über somalisches Gebiet zu entsenden und gezielt terroristische Ziele auszuschalten. Zweifelsfrei war die CIA überzeugt Somalia würde zu einem Rückzugsgebiet für Al Qaida. Mindestens drei hochkarätige Terroristen konnten die US-Geheimdienst nach eigenen Angaben auf somalischem Territorium ausmachen und durch einen gezielten Luftschlag u.a. Aden Hashi Ayro, einen afrikanischen Al Qaida Kommandeur, töten.
Berichte von Al Jazeera und verschiedener arabischer Nachrichtendienste bestätigten zudem schnell die Tatsache dass die islamische Regierung in Mogadischu keinen Hehl daraus machte ausländische Terroristen aufzunehmen und auszubilden.
Mit Hilfe der Äthiopier, den Erzfeinden der Somalis, sollte die unbequeme Situation der neuen Terrorbrutstätte Somalia gelöst werden. Inoffiziell übte die US-Regierung Druck auf die Machthaber von Addis Abeba aus, Truppen in das Nachbarland zu senden und die Islamisten zu stürzen. Unterstützung erfolgte dabei vor allem logistisch durch amerikanische Luft- und Satellitenaufklärung. Vernichtet wurden die Islamic Courts durch die erfolgreiche Militäraktion allerdings keineswegs. Sie zogen sich nach Norden zurück und führten einen Guerillakrieg. Dabei spaltete sich die Bewegung in einen eher politisch agierenden Teil der bereit war eine diplomatische Lösung zu finden, um so wieder an die Macht zu gelangen, und in einen militanten Flügel der nicht nachgeben will und bereit ist einen Dschihad zu führen bis Somalia wieder in islamischer Hand ist. Jenen Splittergruppe stellen heute die Al Shabaab dar die sich selbst als Mujaheddin bezeichnen und keine friedliche Lösung für Somalia anstreben.
Was in den vergangenen Jahren die politische Situation Somalias betrifft so interessierte die westlichen Medien weniger die terroristische Bedrohung die von dort aus ausging oder die Tatsache dass Äthiopien einen illegalen Krieg geführt hatte, sondern vielmehr die Thematik der Piraterie.
Kaum eine Region der Erde weist mehr Überfälle und Entführungen durch Piraten auf als das Horn von Afrika. Vor Somalias Küste wurden in den letzten Jahren hunderte Schiffe gekidnappt, darunter ein ukrainisches Frachtschiff voll beladen mit Kampfpanzern, Raketen und anderen Waffen, ein saudischer Tanker randvoll mit Rohöl und immer wieder kleine private Schiffe die sich auf einer Tour zu nah an die gefährlichen Gewässer vor Somalia gewagt hatten. Im Laufe des Bürgerkrieges ist aus der anfänglich amateurhaften Seeräuberei ein professionelles Business geworden das für die Piratenbanden Millionensummen an Lösegeldern abwirft. Von größeren Mutterschiffen aus starten die somalischen Freischärler mit kleinen, wenigen Schnellbooten zu ihren Beutezügen raus auf die offene See. Die Meerenge zwischen Afrika und der arabischen Halbinsel ist ein Nadelöl für den internationale Öltransport und Frachtschifffahrt. Ununterbrochen schiebt sich hier Tanker um Tanker, Frachter um Frachter durch den indischen Ozean, in Reichweite der somalischen Piraten. Beinahe wöchentlich meldeten die Nachrichtenagenturen von Schiffentführungen vor Somalia, berichteten von Befreiungsversuchen und Lösegeldzahlungen in gigantischer Höhe. Konnte man riskieren dass die Gewässer vor Ostafrika zur No-Go-Area für die internationalen Schifffahrt werden? Niemals. Zu wichtig ist die Route entlang des schwarzen Kontinents für die Ölversorgung des Westens als dass man sich mit den Piratenangriffen abfinden würde. Nach Machtergreifung der Islamisten 2006 kam es zu einem Ende der Schiffkidnappings vor Somalia, Piraten wurden vor islamischen Gerichten zum Tode verurteilt, die Kriminalität sank innerhalb weniger Wochen durch das starke Durchgreifen der korangläubigen Sheikhs. Wiederaufnehmen konnten die Piraten ihr Geschäft erst als die äthiopische Invasion das Gesetz der Sharia außer Kraft setzte und der Rechtsstaatlichkeit Tür und Tor öffnete.
Wie auf Befehl stieg die Zahl der gekaperten Frachter und Tanker wieder als in Mogadischu nicht mehr die Al Shabaab Kämpfer sondern die Soldaten der Ethiopian Army und der AU-Truppen patrouillierten und völlig machtlos der chaotischen Situation gegenüberstanden die die Islamisten hinterließen.
Jetzt also sind sie zurück. Wenige Stunden nach Abzug der äthiopischen Armee überrannten die Islamisten von Süden das Land in Richtung der Hauptstadt. Schnell war auch Baidoa eingenommen, der Sitz der verhassten Übergangsregierung und eine Schlüsselstadt für die Machtübernahme in Somalia.
Wie so oft müssen sich die neuen Herren von Mogadischu, die Führer der Allianz für die Wiederbefreiung Somalias mit den unbelehrbaren, radikalen Kämpfern arrangieren. Letztendlich wird man eine Übereinkunft treffen und der Al Shabaab eine Position in der Regierung zusprechen. Wie auch immer die Machtkonstellation letztendlich aussehen wird, im „failed state“ Somalia wird schon bald wieder das Gesetz des Koran und der Sunnah regieren. In der Person von Sheikh Sharif hat das Land einen Hoffnungsträger gefunden der aus dem Chaos einen funktionierenden Staat formen soll. Dafür allerdings muss er sich mit Emir Mukhtar Robow Ali alias Abu Mansur, dem Anführer der Al Shabaab zusammenschließen der seinen Widerstandskampf nicht aufgeben wird bis Allahs Gesetz über Somalia herrscht.
Für die leidende, hungernde Bevölkerung des Staates bedeutet die neue Regierung ein Hoffen auf das Ende der Gewalt und des ständigen Terrors. Unter koranischer Rechtssprechung nach wahhabitischer Auslegung wie sie schon bald wieder praktiziert werden wird, beginnt eine harte Zeit für alle kriminellen Banden, Verbrecher, Diebe, für Andersgläubige und unorthodoxe Muslime. Aufatmen kann die Öl- und Transportbranche. Schifferei wird bald schon wieder vor der somalischen Küste möglich sein. Damit wird die mittlerweile internationale Koalition der Piratenbekämpfer die in Form von Marineeinheiten zwischen Djibouti und dem Jemen patrouilliert und Frachtschiffe vor Überfällen schützen soll, entlastet.
Steckt dahinter ein kluger politischer Schachzug der internationalen Gemeinschaft? Zuerst wollte man die von Al Qaida unterstützten Islamisten durch die äthiopische Militäroffensive zum Teufel jagen, riskierte damit sogar einen afrikanischen Flächenbrand, einen Dschihad zwischen Kreuz und Halbmond und zwei Jahre später stehen die „somalischen Taliban“ wieder kurz davor die Kontrolle über das Land zu übernehmen. Ist man sich in Washington bewusst dass ein Ende der Piraterie möglicherweise nur zum Preis einer Wiederbelebung der Terroristenbrutstätte möglich ist? Falls man diesen Preis eher bereit ist zu zahlen als sich für weitere Millionen von den Piraten frei zu kaufen zeigt dies wie belanglos die Situation des somalischen Volkes für die Weltgemeinschaft ist. Es geht nicht um eine humanitäre Besserung der Lage, ein Ende von Bürgerkrieg und Kriegverbrechen sondern um die Lösung eines ökonomischen Problems, die Beseitigung einer schmerzhaften Wunde der Ölindustrie. Armes Somalia.
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