Sunday, August 8, 2010

Das Medienwerkzeug "Leid"


Es ist selten geworden, dass Titelblätter mediale Wellen schlagen, schockieren und für weltweites Entsetzen sorgen. Zuviel Leid, zuviel Elend, Mord und Totschlag hat sich in die internationale Presse inzwischen eingenistet, als dass Kriegsbilder beispielsweise aus Afghanistan noch großartig Bestürzung hervorrufen.

Aisha beweist das Gegenteil. Die schöne 18jährige Afghanin aus der Provinz Uruzgan zierte das Titelblatt der vorletzten Ausgabe des "TIME Magazine" und sorgte weltweit für Schlagzeilen. Mehr das Bild, als die bewegende Geschichte des Mädchens erregt dabei die Gemüter. Was Aisha geschah, wird auf den ersten Blick klar: Ihr wurden die Nase und die Ohren abgeschnitten.

Das Mädchen musste büßen, für ein Verbrechen dass ihr Onkel an der Familie eines Taliban-Klanchefs beging. Weil der Onkel einen Verwandten des Taliban-Führers ermordet hatte, musste Aishas Vater zwei Mädchen an dessen Familie abgeben.
Vor sechs Jahren, im Alter von 12, wechselten Aisha und ihre jüngere Schwester die Familie. Sie wurde sobald sie in die Pubertät kam, mit einem Taliban-Kämpfer verheiratet, erlitt schwere häusliche Gewalt und Misshandlung. Wie eine Sklavin hielt die Familie des islamistische Kämpfers das junge Mädchen, während ihr Ehemann sich vor den NATO-Truppen verstecken musste.

Aisha floh, als sie die Schläge nicht mehr ertrug, doch ihr Gatte spürte sie in der Metropole Kandahar wieder auf. An einem einsamen Berghang in Uruzgan schnitt er ihr die Nase und die Ohren ab, ließ sie blutend am Boden liegen. Er übte Rache für die Verletzung seiner Ehre. Ein Mann verliert seien Nase, sagen die Pashtunen, sobald ihn eine Frau öffentlich demütigt. Dieses Sprichwort verkehrte Aishas Ehemann in blutige Realität und verstümmelte die junge Frau.

In einem Krankenhaus von "Women for Afghan Women" in der afghanischen Hauptstadt Kabul, wurde Aisha behandelt und versorgt. Die Entwicklungshelfer und Mediziner kümmerten sich um die verstümmelte Schönheit aus Uruzgan und versprachen ihr Schutz.
Eine südafrikanische Fotografin spürte Aisha auf und überredete das Mädchen zu einem einstündigen Fotoshooting in Kabul. Das Ergebnis der fotografischen Arbeit prangte an tausenden Zeitschriftenständen vom Cover der 01.August-Ausgabe der "TIME".
"Was passiert, wenn wir aus Afghanistan abziehen" - so die Überschrift der Titelstory von Aryn Baker, bewusst ohne Fragezeichen gewählt.

Die Autorin will schocken. Sie will in Zeiten, in denen das militärische Engagement in Afghanistan auf beiden Seiten des Atlantik kaum noch Zuspruch erhält, den Menschen ins Bewusstsein rufen, welch unfassbar grausame Realität auf Afghanistans Mädchen und Frauen wartet, sollten die NATO-Truppen das Land überstürzt verlassen.
Der menschenverachtende Terror, so die Botschaft der "TIME", würde dann unkontrolliert wüten wie ein Buschfeuer, die schwächten Mitglieder der afghanischen Gesellschaft würden endgültig in ein erbarmungsloses Loch aus Gewalt, Misshandlung, Sklaverei und Tod abrutschen.

Damit Aishas Schicksal möglichst vielen Afghaninnen erspart bleibe, müsse die Staatengemeinschaft ihrer Verpflichtung zum humanitären Einsatz am Hindukusch treu bleiben, so Baker. Das Portrait der verstümmelten 18jährigen soll sich einbrennen in das Gedächtnis all jener Zweifler, die Afghanistan längst aufgegeben haben, und den Terror und die Intentionen der Taliban als noblen Widerstandskampf verharmlosen.

Wie zu erwarten dauerte es nicht lange, und die Taliban äußersten sich zum TIME-Titelblatt. Die Geschichte von Aisha sei "fabriziert" und "Propaganda", um von der militärischen Niederlage des Westens in Afghanistan abzulenken, behaupten die Islamisten. Die Afghanin sei unmöglich Opfer der Sharia-Rechtssprechung und auch nicht von Taliban verstümmelt worden. Man verurteile das "barbarischen, unmenschlichen und unislamischen Verbrechen" an Aisha, so die Taliban. Die Sharia-Rechtssprechung, basierend auf Koran und den Ahadith des Propheten Muhammad, verbiete das Abschneiden von Ohren und Nasen Toten wie Lebender.

"Wir sympathisieren mit unserer Schwester Aisha und erklären diese erschreckende Tat ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen das Sharia-Recht", heißt es in der Darstellung der afghanischen Taliban.

Was folgt ist die Auflistung von angeblichen statistischen Fakten zur Gewalt gegen Frauen und Mädchen in den USA und Großbritannien, sowie die Behauptung in den Reihen des US-Militärs würden 30% aller Soldatinnen vergewaltigt.

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Mehr noch als ein Weckruf für die Gegner des Afghanistan-Einsatzes der NATO, ist Aishas erschütterndes Portrait eine Bestandsaufnahme des Krieges im Jahr 2010. Aisha repräsentierte das alte und das neue Afghanistan. Ihr entstelltes Gesicht spiegelt den Gewaltexzess, die Menschenverachtung und die Hoffnungslosigkeit wieder, die seit Jahrzehnten Alltag für das afghanische Volk ist. Leid, wie es auch NATO-Bomben und Anti-Terror-Einsätze über die Zivilbevölkerung bringt, soll durch Leid, verübt von der Gegenseite, gerechtfertigt werden. Nichts anderes trägt die rationale Analyse der TIME Titelblatt-Wahl hervor.
Wenn wir gehen, so will die Autorin Baker vermitteln, geschieht DAS tausendfach. Aber ist es nicht Fakt, dass genau DAS in Zeiten des NATO-Einsatzes geschah, während der westlichen Besatzung? Wird DAS nicht heute, neun Jahre nach Beginn von ISAF, tausendfach an afghanischen Frauen verübt? Welcher Maßstab gilt für Erfolg und Niederlage in einer friedensschaffenden Mission?

Das Mädchen ohne Nase ist zum Sinnbild für Afghanistans Frauenverachtung, für die Brutalität der Taliban und die Grausamkeit der Dorf-Traditionen geworden, nicht aber zu einem rationalen Argument für die Fortsetzung eines Krieges, der täglich Menschenleben kostet. Das Portrait weckt Emotionen, die den Gedanken an dringend benötigte Alternativen zum militärischen Einsatz ersticken. Journalismus ist damit zur steuernden Kraft geworden, zu einem Werkzeug, das Leid verhindern will, zum Preis neues zu erzeugen.

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