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Vor mehr als 1000 Jahren, um 906 n.Chr., standen sich zum ersten Mal Muslime und Schweizer im Alpenland gegenüber. Ein Trupp der Sarazenen, aus dem damaligen islamischen Reich Andalusien kommend, überquerte die Alpen und erreichte die Süd-Schweiz.
Tagebücher und andere Dokumente aus jener Zeit belegen, dass die Araber in Graubünden und dem Wallis auftauchten, dortige Bistümer plünderten (936 n.Chr. in Chur) und Stützpunkte (im Saas-Tal) errichteten, aus denen später Ortschaften wuchsen. Noch immer erinnern Namen wie das des „Allalinhorns“ mit dazugehörigem Gletscher (arabisch al-´ain = Quelle) und der Name des Dorfes Saas Almagell (arabisch al-mahall = Ort, Aufenthaltsort) an das islamische Erbe dieser Region.
Den wenigsten SchweizerInnen, die am vergangenen Sonntag den Urnengang zur Volksabstimmung antraten, werden diese historischen Ereignisse geläufig sein. Was sie letztendlich dazu bewegte, mit ihrer Stimme den Weg frei zu machen für ein Gesetz, das den Bau von Minaretten zu verbieten soll, liegt wohl mehr in emotionalen als in rationalen Sphären. Die Schweiz unternimmt damit als erstes Land einen drastischen Schritt gegen die Präsenz einer Religion, die in der Gesellschaft als Minderheit existiert, aber anscheinend als beachtliche Bedrohung wahrgenommen wird.
Es stimmt traurig und nachdenklich in einem eigentlich weltoffenen, urdemokratischen Land eine europäische Form des amerikanischen „Bradley-Faktors“ zu beobachten. Den Umfragen und Prognosen zum Trotz, siegte der anonyme Rassismus an der Wahlurne, siegte die Ablehnung einer fremden Kultur, Religion und Bevölkerungsgruppe, siegte der Stammtisch über Vernunft und kosmopolitisches Denken.
Schlimmer noch: durch die lange Tradition der direkten Demokratie, durch die Möglichkeit von Volkes Seite Gesetze auf den Weg zu bringen, erhält die nun zum Vorschein getretene Islamophobie und ihre diskriminierenden Auswüchse eine Pseudo-Legitimation. Weil es der freie Volkswille ist, wird Diskriminierung und Ablehnung demokratisch und politisch geadelt.
Minarette spielen im Schweizer Alltag keine Rolle, sie sind weder präsent noch störend vor dem Alpenpanorama. Bauämter haben sich nicht Woche für Woche mit Bauanträgen für saudisch-finanzierte „Mega-Moscheen“ herum zu schlagen, das Thema Minarette ist angesichts der vier existierenden Türme keines, weder auf gesellschaftlicher, noch auf politischer oder religiöser Ebene.
Von muslimischer Seite war der Standpunkt lange vor der Abstimmung klar: „Moscheen brauchen doch gar keine Minarette.“ Aus ihrer Sicht ist die Abstimmung deshalb keine auf die Moscheetürme bezogene, sondern eine Bekenntnis zur Angst. Furch vor den Muslimen und ihrem Glauben.
Auch wenn der türkische Premier Erdogan die Türmchen einst als die „Bajonette“ seiner muslimischen Glaubensbrüder bezeichnete, so kam der Prophet keineswegs mit einem festgelegten, einheitlichen Bauplan für ein islamisches Gotteshaus. Eine Moschee kann überall sein, im Vereinsheim, im Hinterhof, in einem Warteraum am Flughafen oder einer ganz normalen Mietwohnung. Um Allah preisen zu können und sein Wort zu predigen, bedarf es keiner Minarette, nicht einmal ein Dach oder Wände müssen vorhanden sein.
Umso bedenklicher dass es der rechtskonservative SVP (noch dazu mit Unterstützung eines deutschen Grafikers), mit Hilfe eines geradezu lächerlichen, populistisch-propagandistischen Plakates gelang, die Schweizer Volksseele zumindest zu 57% anzusprechen.
„Islamisierung“ ist das Stichwort, Minarette seien nun mal das Symbol für die schleichende Unterwanderung im Zeichen des Halbmondes, sie seien ein Symbol des Machtanspruches der Muslime, ein damit ein eben auch ein politisches Statement. Dagegen, so verteidigen prominente Stimmen aus Medien und Politik, habe sich das Schweizer Volk nun mal entschieden.
Seit Jahren kommen ähnliche Aussagen aus vielen Ecken Europas über das Kopftuch, Ehrenmorde, islamische Schächtungsvorschriften und anderes. Ob dabei Nationalismus, Rassismus, Ignoranz, Populismus einzelner oder ganzer Parteien, oder einfach nur Islamfeindlichkeit überwiegt lässt sich pauschal nicht sagen.
An all jene die in der Islamisierung des Abendlandes die größte Herausforderung für Europa sehen, stellt sich die gleiche Frage: schwächelt die eigene Kultur? Woher kommt die Furcht der Masse vor einer winzigen Minderheit? Weshalb müssen kaum definierbare, schwammige Wertebegriffe nun durch die Diktatur der Majorität verteidigt werden, obwohl sie niemand zu zerstören vermag?
Jede siebte Schweizerin, so eine Umfrage, die jüngst in den Zeitungen zu lesen war, soll bereits gegen Geld Sex angeboten haben, viele davon tun dies laut eigenen Angaben regelmäßig. Angesichts dessen, und der Tatsache dass das legale Alter für Prostituierte in der Eidgenossenschaft bei 16 Jahren liegt, muss die Frage erlaubt sein, welche gutbürgerlichen, christlichen Werte es letztendlich in der Schweiz gegen die kopftuchtragende Gefahr zu verteidigen gilt.
Im Land des Johannes Calvin und der Basler Mission, die Jahrzehntelang besonders in muslimischen Regionen der Welt energisch für den Protestantismus warb, leiden einige (zu viele) an Realitätsverlust. Der Islam ist weder als soziales Faktum angekommen, noch als gesellschaftlich integriert akzeptiert. „Sollen die doch in ihren Ländern Minarette bauen“, so nur ein Kommentar nach dem Wahlsonntag. Dieselben Aussagen tönen auch aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden. Ihre Länder? Was ist wenn Europa das Geburtsland dieser Muslime ist? Was wenn in den Benelux-Staaten, Schweden, Frankreich und England bereits „Muhammad“ zu den beliebtesten Babynamen gehört?
Der europäische Kontinent als Bastion der jüdisch-christlichen Kultur ist längst eine Wunschvorstellung, eine Utopie die sich im bald zweiten Jahrzehnt dieses Jahrtausends nicht hält. Europäer zu sein ist keine Definition für eine bestimmte, oder überhaupt eine Religion, es ist auch keine ethnische Kategorie, lediglich eine geografische Zuordnung. Von Norwegen bis Sizilien und von Portugal bis zum Balkan findet Immigration statt, Völker mischen sich und bauen berechtigterweise Grenzen ab. Nur wenn blind durch diesen Teil der Welt läuft, oder die leeren Kirchen als Festungen der Christenheit betrachtet, kann ernsthaft noch von einem Europa im Namen des Kreuzes sprechen.
Der islamische Glaube ist vielschichtiger, vielseitiger als es der Schweizer Durchschnittsbürger zur Kenntnis nimmt. Und genau deshalb lässt er sich auch in Europa nicht in eine Form gießen, wie man es von Seiten der Mehrheit vielleicht gern hätte. Den Integrationsbaukasten „Euro-Islam“ wird es nicht geben, weder im vereinten Europa, noch im freiwillig ausgegrenzten Alpenland.
Vielleicht sollte man den Schweizern dankbar sein, immerhin gibt der Fall der Minarett-Initiative die Gelegenheit zur Reflexion. Deutlich wie selten zeigt sich: direkte Demokratie kann, als zügelloser Volkswille zur Diktatur der Mehrheit über die zu schützende Minderheit werden. Dabei geht es um mehr als nur um die Frage „links oder rechts“, „liberal oder konservativ“ sondern um die Aussage: „Du darfst nicht so wie ich, weil du anders bist bzw. weil mir dein Weg nicht gefällt“. Toleranz ist zur Verhandlungsmasse geworden, Ausgrenzung ein legitimes Mittel des Staaten. Wohin dies in Deutschland führte ist hinlänglich bekannt.
Zurückbesinnen ist angesagt, auf die Werte der Aufklärung, auf die Werte der pluralistischen Gesellschaft. Wer glaubt man habe eine besondere Verpflichtung, weil beispielsweise die Staatsflagge ein Kreuz ziert, der geht nicht einen Schritt zurück, sondern zehn. Religion ist Privatsache und sollte auf staatlicher und politischer Ebene zum Schweigen gebracht werden. Ihr moralischer und ethischer Anspruch hat den historischen Fakten sowie dem Wandel der Moderne nicht standgehalten und ist daher dem Untergang geweiht.
Werden aber Pfarrer und Priester im Kanton Bern weiterhin von Steuergeldern bezahlt, und muss jedes Unternehmen ob es will oder nicht, eine Kirchensteuer entrichten, dann hat dies für jeden Glauben zu gelten, vom Islam bis zu Scientology.
Die Initiative greife nicht die Religionsfreiheit an, so betonen immer wieder ihre Fürsprecher. Es gehe um die Verteidigung gegen den politischen Machtanspruch einer Glaubensgemeinschaft. Dahinter steckt ein selbst konstruiertes Argument das jeder Logik widerspricht. Die Stärke des Islam waren anders wie beispielsweise im Katholizismus, nie die Prunkbauten, war nie ein religiöses Symbol an jeder Zimmerwand. Niemand aus den Reihen jener fanatischen Minderheit, die tatsächlich Sharia von London bis Rom einführen möchte, benötigt für sein Anliegen ein Minarett. Jene Form der islamischen Lehre, die von SVP & Co als Gefahr angeprangert werden, spielt sich nicht in den Großraummoscheen ab, nicht in jenen offenen Gotteshäusern die Monat für Monat zum „Tag der offenen Tür laden“ und alleine aufgrund ihrer Ausmaße für jedermann erkennbar sind.
Dschihad gegen Europa wird in Hinterhöfen gepredigt, dort wo niemand kontrolliert in welcher Sprache, welche Ideologie vom Imam vertreten wird. Im Untergrund sucht der Islamismus seinen Nährboden, Minarette wären für diese Form der Verschwörung kontraproduktiv.
Christen genießen in islamischen Staaten auch keine Glaubensfreiheit. Am Bosporus und in Saudi-Arabien dürfe auch keine Kirche errichtet werden. Wie du mir, so ich dir – ein weiteres Argument gegen Minarette.
Käme dieser Satz aus dem Mund eines Ziegenhirten aus dem Niltal oder eines Analphabeten aus Waziristan, könnte man ihn als Hinterwäldler-Denken abtun. In einer wohlhabenden westlichen Nation aber kommt diese Form der Argumentation der Hilflosigkeit gleich. Seitdem sind Gegebenheiten, Verfassungen oder Launen von Entwicklungsländern oder faschistischen Diktaturen maßgebend für die Politik im eigenen Land? Vor der eigenen Haustür zu kehren ist und bleibt effektiver.
Was bleibt nun zutun? Die Schweiz wird die Boykott-Aufrufe in der islamischen Welt verkraften, es werden keine Tonnenweise Rolex-Uhren und Edel-Füllhalter aus den Golfstaaten zurückgeschickt und es werden auch keine pakistanischen Panzer über Schweizer Schokolade rollen. Vielleicht werden Genf und Zürich im nächsten Jahr weniger finanzkräftige Kundschaft aus Nahost sehen, vielleicht werden sich Bin Laden & Co. Zu Wort melden, in Karachi und Teheran Schweizer Flaggen brennen oder Botschaften in Kairo und Sanaa mit Molotowcocktails beworfen.
An Gaddafis Kerker dachte wohl keiner der Initiativen-Befürworter bei seiner Wahl. Dort schmoren seit Monaten zwei Schweizer Geschäftsleute, ihnen hat das Schweizer Volk wissentlich und völlig demokratisch einen schweren, unnötigen Schlag versetzt.
Jedem musste klar sein dass der libysche Diktator auf ein Minarettverbot erbost und trotzig reagieren würde. Das wenige was an diplomatischem Erfolg zu verzeichnen war, ist nichtig.
Besinnung auf Gemeinsamkeiten statt Unterschiede ist jetzt angesagt. Brückenbauen wäre entgegen vieler Stimmen aus TV und Zeitung, vielleicht sogar zuviel verlangt. Die vorhandenen nicht einzureißen wäre bereits ein Fortschritt.
Dass die Schweizer Angst wählten und vor der eigentlichen Herausforderung davon liefen, ist in erster Linie peinlich. Höchste Zustimmung erhielt die Initiative im Kanton Appenzell Innerrhoden. Zur Erinnerung: die dort lebenden Frauen bekamen erst durch ein Bundesgerichtsurteil vor 19 Jahren, am 27.November 1990, das Wahlrecht zugesprochen. Dies dürften die Frauen im saudischen Königsreich als Hoffnungsschimmer werten. Wenn es in der Schweiz erst vor kurzem Realität wurde, vielleicht ist die Gleichberechtigung dann auch auf der arabischen Halbinsel nah.
Kurioserweise sind die Eidgenossen auch in Sachen „Schusswaffen in Privatbesitz“ erstaunlich nah bei den muslimischen Nationen. Die Schweiz kann als eines der meistbewaffneten Länder beinahe dem Jemen oder Irak das Wasser reichen.
Wo bleibt der Stolz der Eidgenossen auf ihre Muslime? Auf Tariq Ramadan, Islamwissenschaftler aus Genf, einen der 100 einflussreichsten Muslime der Welt, wenn es nach der neusten Forbes-Liste geht. Oder auf den irakischen Schuhwerfer, der sich gerade die Schweiz als Exil aussuchte.
Wie schlecht kann es um Integration bestellt sein, wenn ein Bruder Osama Bin Ladens in der Schweiz, in Anzug und Krawatte, mit dem Parfum-Verkauf seinen Lebensunterhalt verdient?